Immer häufiger beobachten wir einen beunruhigenden Trend: Ob in privaten Gesprächen oder bei Debatten in Talkshows – immer weniger Menschen scheinen einander wirklich zuzuhören. Stattdessen verfestigen sich starre Positionen und schnelle Urteile dominieren den Austausch. Offene Räume, wo Themen in der notwendigen Tiefe erörtert und respektvoll verhandelt werden, schwinden. Soziale Medien beschleunigen diesen Trend durch oberflächliche Debatten, die mehr einer Jagd nach Aufmerksamkeit durch Empörung und Polarisierung als sachlicher, faktenbasierter Auseinandersetzung gleichen. Es bleibt kein Platz für Nuancen und Differenzierung, Empathie und gegenseitiges Verständnis. Echte Debatten scheitern schon bevor sie entstehen – dabei brauchen wir sie gerade dringender denn je.

Diese Entwicklung macht auch im Kunst- und Kulturbereich nicht Halt. In Zeiten fundamentaler Krisen und Umbrüche sind Kunst und Kultur von unschätzbarem Wert. Warum? Sie sind intellektueller und emotionaler Anker, bieten eine alternative Sprache, wenn Worte versagen, und helfen, das Unaussprechliche auszudrücken.

Aber gerade Kunst und Kultur stehen unter Druck. Räume zum Experimentieren und die Luft zum Atmen werden knapper – ideell und finanziell. Wir erleben aktuell, wie politisch motivierte Ideologien z.B. der BDS-Bewegung zum Boykott israelischer Künstlerinnen und Künstler aufrufen und die Freiräume für Wissenschaft und Kunst für Antisemitismus, Rassismus und Extremismus missbraucht werden. Die Freiheit der Kunst, sich unabhängig von politischen und wirtschaftlichen Interessen mit Wirklichkeit und Wahrnehmung auseinanderzusetzen, ist unverzichtbar. Sie ist nicht nur eine Frage der Selbstverwirklichung von Kunst- und Kulturschaffenden, sondern Voraussetzung für Vielfalt und damit Grundlage unserer offenen, demokratischen Gesellschaft. Ohne fundierte Debatten verlieren wir mehr als nur künstlerischen Ausdruck – wir verlieren die Fähigkeit, uns kritisch zu hinterfragen und die Herausforderungen unserer Zeit zu reflektieren.

Es ist deshalb Aufgabe aller politischen Ebenen, den Rahmen dafür abzusichern und dafür zu sorgen, dass diese Räume nicht durch Extremisten gefährdet oder von wirtschaftlichen Interessen abhängig werden. Die Kunsthalle Tübingen ist ein solch beeindruckender Ort der Auseinandersetzung zeitgenössischer Kunst – substanziell, vielschichtig, unbequem. Gut, dass es sie gibt.

Veröffentlicht im Schwäbischen Tagblatt am 18.10.2024