Mein Kommentar: Kein böses Erwachen

Mein Kommentar: Kein böses Erwachen

Als heute vor 85 Jahren die Menschen zur Arbeit und zur Schule gingen, lag eine der schlimmsten und entwürdigendsten Nächte in der deutschen Geschichte hinter ihnen. Die Scherben der Reichspogromnacht waren nur ein Vorbote für die unfassbaren Verbrechen der Shoah. Der tiefe, widerwärtige Abgrund enthemmter Gewalt und Entmenschlichung hatte sich geöffnet. Nationalsozialisten steckten Synagogen in Brand, schändeten Friedhöfe, verwüsteten und plünderten jüdische Geschäfte und Wohnungen. Jüdinnen und Juden wurden verhaftet und in Konzentrationslager gebracht. Auch in Tübingen, Baisingen und Hechingen brannten die Synagogen.

Was ist unsere Erinnerung daran heute wert? Spätestens seit dem brutalen Überfall der Hamas vor vier Wochen ist die Angst in jüdische Familien und Gemeinden in Deutschland zurückgekehrt. Mich beschämt das dröhnende Schweigen weiter Teile der Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur ob des Terrors und die Empathielosigkeit gegenüber den jüdischen Opfern. Mich macht wütend, wenn auf unseren Straßen Mord, Geiselnahmen und Vergewaltigungen gefeiert, die Verbrechen der Hamas relativiert und historische Tatsachen verkehrt werden.

Die Solidarisierung mit Israel, den Familien der Opfer und mit Jüdinnen und Juden weltweit heißt nicht, dass wir die Augen vor dem humanitären Leid der Zivilbevölkerung in Gaza verschließen. Jedes Leben hat den gleichen Wert. Doch legitimiert dies nicht die systematische Gewalt gegen Jüdinnen und Juden. Den Hamas-Terroristen und ihren Anhängern, die vorgeblich im Namen der Palästinenserinnen und Palästinenser handeln, geht es nicht um ihre Bevölkerung, Frieden oder eine Zwei-Staaten-Lösung. Ihr Ziel ist die Auslöschung Israels. Unser Mitgefühl darf nicht zur Relativierung von Terrorismus und Antisemitismus führen. Wer von der freiheitlichen Demokratie Israel die Einhaltung von humanitärem und Völkerrecht einfordert, muss dieselben Maßstäbe an die Hamas, die Hisbollah und den Iran anlegen – Terrororganisationen und -regime, die sich an kein Recht halten.

Der Staat Israel ist keine Bedrohung, sondern ein Schutzversprechen an die Jüdinnen und Juden. “Nie wieder” ist konstitutiv für unseren Staat und dafür, wer wir sind: Ein Land des Rechts, der Freiheit und der Demokratie. Nie wieder ist jetzt: Deshalb kann es ein „Weiter so“ nicht geben. Damit Deutschland nicht wieder böse erwacht.

Veröffentlicht im Schwäbischen Tagblatt am 10.11.2023.

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