Mein Kommentar: Keine Angst vor Argumenten

Mein Kommentar: Keine Angst vor Argumenten

Gestern beschloss der Bundestag nach intensiver Debatte das sogenannte Bürgergeld. Am Montag wird das Gesetz im Bundesrat voraussichtlich scheitern und im Vermittlungsausschuss landen. Das hätte die Ampel im Interesse der Sozialhilfeempfänger vermeiden können, indem sie die Kritik von Kommunen, Wirtschaft, Bundesrechnungshof, aus den Personalvertretungen der Jobcenter oder der Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit nicht mit billigen parteipolitischen Vorwürfen abgetan hätte. Keine Regierungsmehrheit hat Anspruch auf kritiklose Zustimmung zu ihren Vorhaben. Im Gegenteil: Unsere Demokratie basiert auf dem Prinzip der parlamentarischen Kontrolle durch die Opposition. Deshalb ist es geradezu unsere Pflicht, auf die maximale Komplexität und Bürokratie sowie die gravierenden Folgen dieses Vorhabens aufmerksam zu machen. Gespielte Empörung und Beleidigungen aus Angst vor Argumenten ersetzen die fachliche Auseinandersetzung nicht.

Dazu gehört auch anzuerkennen, was richtig und notwendig ist wie die Erhöhung der Regelsätze und der Hinzuverdienstgrenze. Das wollen auch wir, denn Inflation und Krisen belasten armutsbetroffene Menschen am stärksten. Doch der sicherste Weg aus Armut und Arbeitslosigkeit führt über Beschäftigung. Die Anreize dazu durch das sog. Bürgergeld gerade in den ersten sechs Monaten zu reduzieren, ist kontraproduktiv. Auch ein Schonvermögen von bis zu 150.000 Euro bei einer vierköpfigen Familie ist gegenüber einer Bäckereifachverkäuferin und ihrer Familie, die davon nur träumen kann, mehr als erklärungsbedürftig. Industrie, Handwerk und Sozialeinrichtungen suchen händeringend Arbeitskräfte. Einer Million Langzeitarbeitslosen stehen fast doppelt so viele offene Stellen gegenüber. Statt diese Personalnot durch verstärkte Vermittlung und Begleitung der Jobcenter zu lindern und neue Chancen in Arbeit zu eröffnen, kürzt die Bundesregierung die Mittel für die aktive Arbeitsmarkteingliederung um 600 Mio. Euro. Dadurch schafft die Ampel nicht mehr Respekt für die Betroffenen, sondern lässt sie im Stich.

Wir dürfen das „Fordern“ nicht aufgeben und müssen gleichzeitig beim „Fördern“ besser werden. Nur so bleibt der gesellschaftliche Zusammenhalt zwischen denjenigen, die mit ihren Steuern die Leistungen finanzieren, und denen, die unsere Solidarität und Unterstützung brauchen, auch erhalten.

Veröffentlicht im Schwäbischen Tagblatt am 11. November 2022.

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