„B-Dur sei die Tonart deines Lebens, denn sie kennt kein Kreuz“, schrieb die Tante von Lilo Ermann 1936 der damals 10-jährigen in ihr Poesiealbum. Lilo Ermann wurde in Auschwitz ermordet, das Poesiealbum aber überlebte den Holocaust. Es ist eines von 16 Gegenständen aus der Gedenkstätte Yad Vashem, die zum heutigen Holocaust-Gedenktag für eine Ausstellung im Bundestag zum ersten Mal nach Deutschland zurückgekehrt sind.
Es sind Alltagsgegenstände – eine Puppenküche, ein Aktenkoffer, ein Chanukka-Leuchter. Sie sind Zeugnisse zerstörter Leben, eines Massenmordes unvorstellbaren Ausmaßes. Der Satz im Poesiealbum bewegt mich sehr, weil er von den Wünschen für ein junges Mädchen handelt, deren Leben, wie das von 6 Mio. Menschen, von den Nationalsozialisten vernichtet wurde. Auch im Jahr 2023, 90 Jahre nach der „Machtergreifung“, müssen wir mehr denn je solche Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlagen, um unserer Verantwortung für den Holocaust gerecht zu werden.
Auch Tübingen sucht nach dem richtigen Weg im Umgang mit der Geschichte: So wird kontrovers über die Benennung von Straßen diskutiert, deren Namensgeber umstritten sind. Und Tübingen ist dabei kein Einzelfall: Richard Wagner, Martin Luther, Johann Wolfgang von Goethe, Otto von Bismarck – es sind Persönlichkeiten, deren außergewöhnliche Bedeutung in der deutschen Geschichte und darüber hinaus, den Umgang mit ihnen so schwierig macht. Die Auseinandersetzung damit ist jedoch elementar für unsere Erinnerungskultur und stärkt das historische Bewusstsein.
Doch machen wir es uns nicht zu leicht, wenn wir uns Teilen unserer geschichtspolitischen Entwicklung durch Umbenennung einfach entledigen? Auch Straßennamen, Plätze und Säle sind Abbild ihrer Zeit. So einiges, was damals gesagt, geschrieben und entschieden wurde, empfinden wir heute als Zumutung. Und nur weil es damals nicht reflektiert oder akzeptiert war, kann es heute nicht unwidersprochen so stehen bleiben.
Doch statt ideologiegetriebenen Revisionismus zu betreiben, bedeutet ein verantwortungsbewusster Umgang mit unserer Geschichte auch, die Komplexität und Dilemmata in unserer Erinnerungskultur anzuerkennen – nicht um Unrecht zu relativieren, sondern um Bewusstsein für gesellschaftliche Kontexte zu schaffen. Auch Straßennamen können „Stolpersteine“ in der Aufarbeitung unserer Geschichte sein.
Veröffentlicht im Schwäbischen Tagblatt am 27.01.2023.